15.2.16

[ #geschichte ] Menschliche Dokumente aus der unmenschlichen Anstalt

Die erst 16-Jährige Elfriede Wächtler zieht aus der elterlichen Wohnung aus, für die damalige Zeit mutig. 

Sie verdient sich ihren Lebensunterhalt mit kunstgewerblichen Arbeiten und Gebrauchsgraphik und entscheidet sich, fortan als freischaffende Künstlerin zu arbeiten. Sie besucht die Klasse für angewandte Grafik von Oskar Erler und befreundet sich mit sozialkritischen Künstlern der Dresdner Sezession wie Otto Dix, Conrad Felixmüller, Otto Griebel und Kurt Lohse, mit denen sie zu malen beginnt. Ihre Werke signiert sie als "Nikolaus Wächtler".


1921 heiratet sie Lohse und zieht mit ihm 1925 nach Hamburg. Das Scheitern ihrer Ehe, fehlende künstlerische Kontakte, Mittellosigkeit und Hunger reiben die Künstlerin auf. Als sie unter Verfolgungsängsten leidet, schicken Freunde wie der "Oberdada" Johannes Baader sie am 4. Februar 1929 in die Anstalt Friedrichsberg. Baader schreibt an Otto Dix:
"Wären Geld und Haus und Menschen, die sich ihr ausschließlich widmen konnten, vorhanden gewesen, so hätte sich die Einweisung in die Psychiatrische Klinik erübrigt. Das Einschnappen in die pathologische Situation ist ausgelöst worden durch das allmählich eingetretene völlige Versagen jeder Existenzmöglichkeit; dazu kam das Ringen zwischen Kurt Lohse und ihr und die Notwendigkeit, den Besitz von K.L. (dem sie zutiefst und unauflöslich verknüpft ist) mit einer anderen Frau zu teilen. So rettete sie sich, wie der psychologische Terminus autet, in die Krankheit."

Drei Tage nach der Einweisung beginnt sie jedoch zu zeichnen - Mitpatientinnen und Ausblicke aus dem Krankenzimmer. Es entstehen rund sechzig Zeichnungen und Pastelle. Die Kopf- und Halbkörperporträts zeigen leidende, verwirrte und debile Menschen und zeugen von ihrer großen inneren Anteilnahme. Diese und die später in der Psychiatrie Arnsberg geschaffenen Arbeiten sind kunsthistorisch einmalig, denn es ist kein anderer Fall bekannt, indem eine Malerin während der eigenen Hospitalisierung die Verbildlichung psychisch Kranker zu ihrem Thema erhob. Sie erholt sich dort und wird zwei Monate später entlassen.

Der Vater lässt Elfriede Lohse-Wächtler am 17. Juni 1932 neuerlich in die Landes- Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf bei Dresden einweisen, wohl nicht in böswilliger Absicht. Überforderung, Ratlosigkeit und Gedankenlosigkeit, natürlich auch eigene finanzielle Not, lassen ihn einen "Aufbewahrungsort" für seine ihm so fremde Tochter finden. Der zuständige Stationsarzt diagnostiziert - ohne weitere Prüfung - Schizophrenie. In den ersten drei Jahren bleibt sie vielseitig künstlerisch tätig, sie malt Ärzte, Krankenschwestern und Patienten, schneidert nach eigenen Entwürfen und Schnitten Kleider und Kostüme.


In den ersten Arnsdorfer Jahren entstehen Porträts, die an das Projekt der "Friedrichsberger Köpfe" anschließen. Es sind einzigartige Dokumentationen aus dem Inneren der unzugänglichen Anstalten, angesiedelt in der Nähe von Sozialreportagen. Elfriede Lohse-Wächtler schafft jedoch trotz Papierknappheit genaue physiognomische Studien von den Arnsdorfer Frauen allen Alters: Meist arme und schlichte Personen, die sie entweder in sorgfältigen, raschen oder spontan quirligen Strichen wider gibt, ohne zu pathologisieren. Die oft angespannten, freudlosen Gesichter sind frei gestellt, ohne Verweis auf ihre Umgebung. Es sind Gesichter der Isolation, die Individualität und auch Schönheit besitzen. Obgleich die Künstlerin in der Enge mit den "schwatzenden Weibern" verzweifelt, gibt sie den Porträtierten Würde. Da die meisten Anstaltspatientinnen wohl das tödliche Schicksal der Künstlerin teilten, sind die Zeichnungen auch aus diesem Grund unschätzbare Dokumente unseres kulturellen Gedächtnisses. Damit behalten die entmündigten Frauen wenigstens im Medium des Bildes ihre Würde.

Schließlich wird das nationalsozialistische "Erbgesundheitsgesetz" der Anlass für eine Zwangssterilisation am 20. Dezember 1935, die Nazis starten den ersten Akt des Vernichtungswerkes gegen Elfriede Lohse -Wächtler. Ihre Persönlichkeit ist danach wie ihre künstlerische Kreativität zerstört. Aus den Jahren nach 1935 sind nur noch fünf trostlosartige, dem NS-Stil "gleichgeschaltete" Glückwunschkarten erhalten. Was folgt, ist die physische Vernichtung: Die Rationen werden in der Anstalt herabgesetzt, der Hungertod der Insassen ist die erwünschte Konsequenz. In ihrem einundvierzigsten Lebensjahr wird Elfriede Wächtler schließlich Opfer der "Aktion T 4", dem nationalsozialistischen Massenvernichtungsprogramm "lebensunwerten Lebens". Vergeblich hatte sich die Mutter kurz zuvor um die Entlassung der Tochter bemüht.

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