17.6.14

[ #bildende-kunst ] Entarteter Neuanfang: Bürgerliche Dekadenz

Totemtier Reichsadler
1946 äußerte der während der Nazizeit als "entartet" und mit einem Arbeitsverbot belegte Maler Karl Schmidt-Rottluff  in einem Artikel im "Sächsischen Tageblatt" über "Weg und Aufgabe der deutschen Kunst" seine Gedanken über Vergangenheit und Zukunft: 

"Der größte Fehler des deutschen Künstlers vor 1933 war es wohl, dass er nicht die Verbindung mit den arbeitenden Schichten finden konnte, er lebte und schaffte im kulturellen Raum, ohne Beziehung zum gesellschaftlichen Leben. ... So konnten der Künstler nicht zum Arbeiter und der Arbeiter nicht zum Künstler finden. Einer stand dem anderen verständnislos gegenüber. Der Künstler gab keinen Impuls, er empfing auch darum keinen; er war isoliert und musste darum 1933 so schnell kapitulieren, wenn er sich überhaupt wehrte, selbstverständlich mit einigen Ausnahmen, die in den vergangenen zwölf Jahren nicht eine Minute aufhörten, ihren Kampf gegen die Unkultur zu führen. Die Mehrzahl der Künstler aber beugte sich den Befehlen aus dem Propagandaministerium; es war doch so einfach, man brauchte nicht um die Form zu ringen, man erhielt sie schon gebrauchsfertig. Die einen flüchteten in die Romantik des deutschen Waldes, die anderen malten in nationaler Größe, wurden Hofmaler des 3. Reichs, malten Rassenwahn und Heldentod. Ihre Bilder waren schon vergangen bevor sie fertig waren. Auf den offiziellen Ausstellungen hatten sie ein Scheindasein ohne irgendwelche inneren Beziehungen auch nur zu einem Teil des Volkes ... Die letzten zwölf Jahre, insbesondere das Kriegserlebnis haben den Menschen umgeformt, und dieser Umformungsprozess wird im verstärktem Maße weitergehen. Welchen Niederschlag das in der Kunst finden wird, ist heute noch gar nicht zu sagen."


Bürgerliche Dekadenz. Aber bereits am 9.Mai 1949 schreibt der Maler Karl Schmidt-Rottluff an den 1934 emigrierten Arzt Dr. Justin Oberzimmer in Johannesburg: "... Wir ehedem Entarteten sind der östlichen Besatzungsmacht bereits wieder entartet - nun nennt man's bürgerliche Dekadenz. Nun ich habe nie erwartet, dass andern meine Bilder gefallen ..."


Totemtier Reichsadler (Titelbild).  Neben anderen namhaften Künstlern wurde 1920 Karl Schmidt-Rottluff beauftragt, einen Entwurf für das Reichswappen anzufertigen. Schmidt-Rottluff, wie auch andere Expressionisten, war stilistisch durch Formen der "Primitivkunst" geprägt. Dieser Rückgriff auf eine den meisten Zeitgenossen letztlich noch weitgehend unbekannte Formensprache wird in den grobflächig geschnittenen Entwürfen sichtbar und trug sicherlich dazu bei, daß Schmidt-Rottluffs Adler als unpassend empfunden wurde. Als "erschrockenen Papagei" titulierte ihn die "Vossische Zeitung" am 11. Juni 1920. Die Kabinettsmitglieder fühlten sich beim Anblick dieses Adlers möglicherweise an ein Totemtier erinnert und empfanden ihn geradezu als Verballhornung ihres Reichsadlers, wenig geeignet, die angestrebte Einheit und Stärke des Reiches zu symbolisieren und als repräsentatives Tier auf Münzen, Amtsstempeln oder an Konsulaten zu dienen.

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