8.7.14

[ #literatur ] Regensommer lässt Monster wachsen

Percy Bysshe Shelley  war 1816 - im Jahr ohne Sommer - mit einer erst 17-jährigen in die Schweiz durchgebrannt, der Tochter des Schriftstellers William Goldwin und der Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft. Diesem verregnten Sommer verdanken wir ein Monster: Frankenstein!


Der Sommer des Jahres 1816 ist in die Geschichte eingegangen. Es war einer der kältesten seit 400 Jahren. Er hatte aber auch Folgen für die Kultur- und Literaturgeschichte. Diese fielen für die Zeitgenossen natürlich nicht ins Gewicht und waren überhaupt kaum wahrnehmbar. Aber sie erwiesen sich als langlebig und dauern bis heute fort. Den beiden Gespenstern, die im "Jahr ohne Sommer" zum ersten Mal die Bühne der Literatur betraten, stand nämlich eine große Zukunft bevor. Später haben sie auch die Kinoleinwand und den Fernsehbildschirm erobert und gehören inzwischen längst zum Stammpersonal unserer Schreckens- und Schauerphantasien: Frankenstein mit seinem künstlichen Menschen und der blutsaugende Vampir. Beide waren sie Ausgeburten des schlechten Wetters von 1816 - Erfindungen, die aus einem Wettbewerb im Geistergeschichtenschreiben hervorgingen, den damals einer der berühmtesten Dichter Europas im kleinen Kreis der Freunde und Freundinnen in einem von Gewittern umtobten Ferienhaus am Genfer See veranstaltete.


Der Frankenstein-Roman erschien zuerst 1818 und wurde sofort ein großer Erfolg. Bald tauchten die ersten Dramatisierungen auf, und seit 1910 ist kein Jahrzehnt vergangen, in dem der Stoff nicht mindestens einmal verfilmt wurde.

Die Geschichte von der Erschaffung und Belebung eines künstlichen Menschen, übrigens auf rein technisch-wissenschaftlicher Grundlage, ohne Mitwirkung magischer oder göttlicher Kräfte (wie etwa in der jüdischen Sage vom Golem), ist zu einem modernen Mythos geworden und in der Gestalt, die er in unserer Vorstellung angenommen hat, hat sich der Name Frankenstein von dem Schöpfer des Unwesens abgelöst und ist auf dessen Geschöpf übergegangen - so wie sich im Laufe der Zeit auch die Geschichte, je mehr sie Mythos wurde, von ihrer Verfasserin abgelöst hat.


Mancher, dem die Frankenstein-Geschichte gut vertraut ist, hat von Mary Shelley vielleicht noch nie gehört, geschweige denn von den außergewöhnlichen meteorologischen Umständen, unter denen ihr Roman entstand und von denen er in einigen charakteristischen Zügen deutlich geprägt wurde. Die Szenerie, in der Mary Shelley die entscheidenden Abschnitte ihrer Gespenstergeschichte ansiedelt, ist die von Gewittern durchtobte, regengepeitschte alpine Umgebung des Genfer Sees. Und vielleicht verlieh die blitzerfüllte Atmosphäre des verdorbenen Sommers von 1816 der Vorstellung, Leben lasse sich in toten Gliedmaßen durch "galvanische Experimente", durch elektrochemische Verfahren erneuern, eine besondere Plausibilität. In einigen Frankenstein-Filmen ist es sogar die Energie der Blitze selbst, mit der der zusammengestückte Körper des Monstrums zum Leben erweckt wird.


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