14.12.14

[ #literatur ] Russisches Roulette: Hinrichtung als Folter


"Heute ... wurden wir alle nach dem Semjonower Platz gebracht. Dort verlas man uns das Todesurteil, ließ uns das Kreuz küssen, zerbrach über unseren Köpfen den Degen und machte uns die Todestoilette (weiße Hemden). Dann stellte man drei von uns vor dem Pfahl auf, um das Todesurteil zu vollstrecken. Ich war der sechste in der Reihe; wir wurden in Gruppen von je drei Mann aufgerufen, und so war ich in der zweiten Gruppe und hatte nicht mehr als eine Minute noch zu leben ... Ich hatte noch Zeit, Pleschtschejew und Durow, die neben mir standen zu umarmen und von ihnen Abschied zu nehmen. Schließlich wurde Retraite getrommelt, die an den Pfahl Gebundenen wurden zurückgeführt, und man las uns vor, dass seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenkte."


Auf der Hinrichtungsstätte wird Dostojewskij und den anderen am 22. Dezember 1849 die Umwandlung des Todesurteils in vierjährige Zwangsarbeit in Sibirien verkündet. Es war eine förmliche Begnadigung durch den Zaren in Form einer Strafmilderung: Vier Jahre Zwangsarbeit und vier Jahre Militärdienst in Sibirien. Am 24. Dezember 1849 machten sich Dostojewskij und seine Gefährten in Ketten und bei zwanzig Grad Kälte auf den Weg nach Sibirien, zuerst nach Tobolsk und vom 23. Januar 1850 war er in Festungshaft in Omsk. Mitte Februar 1854 wurde Dostojewski aus der Festung Omsk entlassen und für weitere vier Jahre Dienst als Soldat des 7.Grenzbataillons nach Semipalatinsk abkommandiert. Erst im November 1859, nach zehn Jahren Abwesenheit, kehrte Dostojewski nach Petersburg zurück.


 1869, zwanzig Jahre nach seinem Todesurteil, vollendete Fjodor Michailowitsch Dostojewski seinen Roman "Der Idiot". Darin heißt es: "Vielleicht gibt es sogar jemanden, dem sein Todesurteil schon mal verlesen worden ist und dem man dann gesagt hat: Mach, dass du wegkommst, du bist begnadigt. Der könnte wohl einiges erzählen." Er verarbeitet darin die Scheinhinrichtung literarisch, in dem er Fürst Myschkin von einem Mann berichten lässt, der ebenfalls Opfer einer fiktiven Exekution wird. "Er erinnerte sich an alles mit außerordentlicher Klarheit und sagte, er werde von diesen Minuten nie etwas vergessen." Das gilt auch für den zu dieser Zeit 28-jährigen Dichter. Die traumatische Erfahrung der Todesgewissheit prägt, hinterlässt tiefe Spuren und gibt dem Leben eine andere Wendung. Dostojewskij beurteilte später Victor Hugos "Der letzte Tag eines Verurteilten" als einen der besten Romane der Literaturgeschichte, denn Hugo habe, inspiriert allein durch den Anblick des Schafotts in seiner Jugend, diese Situation trefflicher und menschlicher zu schildern vermocht, als er selbst jemals in der Lage gewesen wäre, dies zu tun.

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